Die deutsche Medizintechnik-Industrie / SPECTARIS Jahrbuch 2023/2024

SPECTARIS Jahrbuch 2023/2024 | Medizintechnik 59 » Warum wir politisch agieren müssen – ein Szenario Es ist davon auszugehen, dass der vorgelegte Beschränkungsvorschlag nachgebessert wird. Es wäre naiv anzunehmen, dass nur zusätzliche Ausnahmen zu erwarten sind, die uns aufgrund eingebrachter Evidenz an der ein oder anderen Stelle helfen. Orakel der Bundesregierung mutmaßen, dass Forschungseinrichtungen Unterlagen vorlegen werden, die Erkenntnisse zu weiteren, bisher unbekannten Substitutionsmöglichkeiten beschreiben. Für die meisten unserer Anwendungen sind uns solche Alternativen nicht bekannt. Ob die Substitutionsmöglichkeiten für unsere komplexen Produkte passen, gilt es dann aufwendig und sorgfältig zu prüfen. Bis dahin werden bereits Produkte vom Markt verschwunden sein, insbesondere bei Nischenanwendungen. Es wäre naiv anzunehmen, dass im Rahmen der Konsultation abschließende und umfassende Kenntnis dazu vorliegt, wo solche weiteren Ausnahmen formuliert werden müssten. Die Thematik ist so hochkomplex, dass nicht nur KMU überfordert waren. Erinnern wir uns: In Europa sprechen wir von etwa 500.000 Medizinprodukten. Ein Drittel, so schätzen wir, sind PFAS-relevant. Von den 400 SPECTARIS-Mitgliedern haben sich nur 12 Prozent an der Konsultation beteiligt. Das heißt, es wird Überraschungen geben, solche, an die keiner gedacht hat, und solche, bei denen die Lieferketten zu komplex waren. In den meisten Fällen wird es bei Medizinprodukten Auswirkungen auf die Patientenversorgung haben. Wäre es naiv anzunehmen, dass die 3.865 Eingaben von Unternehmen und Verbänden im Rahmen der Konsultation in komplexen Kontexten von den Gutachtern gut genug verstanden wurden oder dass bei der Vielzahl an zu erwartendem Klärungsbedarf Zeit für Nachforschungen zur Erzielung bestmöglicher Erkenntnis geblieben ist? Oder werden Unklarheiten als nicht evident genug beiseitegelegt? SPECTARIS hatte sich bereits an der vorausgehenden Konsultation 2021 beteiligt. Erinnern wir uns weiter: Die Gutachter sind Mitarbeiter nationaler Umweltbehörden und keine ausgewiesenen Medizintechnik-Experten. Ohne enge Einbeziehung von Stakeholdern wie uns oder ohne einen wirklich klugen Regulierungsweg, abweichend von der vorgelegten Methode, müssen wir mit eklatanten Verwerfungen rechnen. Zehntausende Produkte, die Hochleistungswerkstoffe aus PFAS benötigen, werden nach 18-monatiger Übergangsfrist vom EUMarkt verschwinden. Stammen die Produkte aus EU-Produktion, so werden auch diese Produktionslinien stillgelegt. Stillstehen werden über kurz oder lang auch die Produktionslinien, die Teflon, Viton & Co. „nur“ in den Anlagen benötigen, wenngleich die Produkte PFAS-frei sind. Das trifft in unserer Branche z. B. optische Beschichtungen. Dieser Schritt wird meist im Verborgenen passieren, da es sich wirtschaftspolitisch „nur“ um kleine Spezialanbieter handelt, die nur regional streng begrenzt von arbeitsmarktpolitischer Bedeutung sind. Handelt es sich um größere Hersteller, mutmaßt die Öffentlichkeit sogar, die Unternehmen haben sich nicht schnell genug auf den Wandel hin zu einer „chemiefreien Welt“ einstellen können. Erst wenn die Patientenversorgung betroffen sein wird, werden Journalisten und die Öffentlichkeit den Zusammenhang mit fehlenden Medizinprodukten herstellen. Ob sie auch die überzogene Umsetzung von Vorgaben aus dem Green Deal thematisieren, hängt von vielen Faktoren ab, auch davon, ob es als „woke“ empfunden wird, sich selbst zu hinterfragen. Vieles von dem, was wir unter moderner Hochleistungsmedizin verstehen, wird betroffen sein. Erst wenn Ärzte und Kliniken merken, dass die Patientenversorgung massiv beeinträchtigt ist, wird das öffentliche Aufsehen groß. „Keiner hat das gewollt“, „das war so nicht zu erwarten“ werden politische Entscheidungsträger zitiert. Um diese Kausalkette beizeiten transparent zu machen, haben wir als SPECTARIS schon früh mit Ärztevertretern gesprochen. » Nachregulieren, wenn es zu spät ist Bewegen wir uns weiter in unserem bisher nur fiktiven Szenario: Der öffentliche Druck aufgrund von abgesagten Operationen und Behandlungen bewegt die EU-Kommission zum Einlenken. Die Gründe werden an allen Ecken gesucht, nur nicht im eigenen Umfeld. Schneller als gedacht werden für Medizinprodukte, für weitere essenzielle Anwendungen und für Fluorpolymere im Allgemeinen samt Vorstufen in den Lieferketten die Verbote aufgehoben. Doch was wird bis dahin passiert sein? EU-Firmen mit lokaler und PFAS-betroffener Produktion sind in massive Schwierigkeiten geraten und zum Teil komplett aus dem Markt ausgeschieden, weil ein Großteil ihrer Produkte auf PFAS-Hochleistungswerkstoffe angewiesen sind, ohne die sie keinen Sinn ergeben. » Was ist alles betroffen Endoskopie, minimalinvasive Chirurgie, die interventionelle Radiologie im Allgemeinen; Anästhesiegeräte, Inkubatoren für Neugeborene, Herz-Lungen-Maschinen oder Dialysegeräte; Implantate wie Herzschrittmacher, Stents oder Gelenke, Produkte mit Blutkontakt oder Verpackungen für Medizinprodukte, die in sterilem Zustand in Verkehr gebracht werden; Chirurgische Hilfsmittel, Nahtmaterial, Katheter, Kontaktlinsen; bildgebende Geräte wie MRT, CT oder Ultraschall. Produkte sind auch indirekt betroffen, die im Herstellungsprozess PFAS bei Produktionsanlagen erfordern: Vakuumanlagen für optische Beschichtungen, Chipfertigung oder Hilfsmittel zur Entformung von Spritzgussbauteilen. Wem das nicht reicht, denke an Dichtungen und Schmierstoffe.

RkJQdWJsaXNoZXIy ODM4MTc=